Zahlen haben keine Größe!
Wie groß ist 5 ? Wie groß ist 17 ? Oder 5891 ?
Haben Zahlen eine Größe, die man mit den Händen zeigen kann?
Natürlich haben 20 cm eine bestimmte Größe, ungefähr eine Handspanne breit. Oder 4 km, auch wenn man sie nicht mehr mit ausgestreckten Armen verdeutlichen kann.
Aber Zahlen allgemein?
Nun, 100 ist ja ein Meter lang, wenn man dem in fast jedem Klassenzimmer hängenden Zahlenstrahl trauen darf. Stimmt das aber?
In unseren Köpfen denken wir Zahlen als Größen, zumindest tun dies die meisten Menschen. Und sie denken Zahlen in einem vorgestellten Zahlenraum, in dem sie eine Anordnung, eine Abfolge haben. Zwar entstehen Zahlen im Kopf des Kindes aus Handlungen mit Material, mit Gegenständen und Mengen, und die arithmetischen Operationen entwickeln sich ähnlich: die Addition als Vereinigung von Objektmengen, die Subtraktion als Restmengenbildung (von einer Menge wird etwas entfernt, entnommen) usw. Aber denken wir auch so?
Wenn Erwachsene rechnen, dann stellen sie sich keine konkreten Mengen vor, sie vereinigen nicht im Kopf zwei Mengen von Äpfeln, sondern sie führen Bewegungen in ihrem vorgestellten Zahlenraum aus. Sie springen nach rechts (Addition) oder nach links (Subtraktion). Haben bei diesen Bewegungen die Zahlen zumindest in unserer Vorstellung eine feste Größe?
Wohl kaum, denn sie stellen lediglich Beziehungen dar. Sie besitzen eine räumliche Nähe oder Entfernung zu anderen Zahlen. Wir denken die 94 nicht allein, sondern als geometrischen Ort, der nahe an der 100 liegt. Aber wie nahe?
Das hängt von der Aufgabe ab, denn wir besitzen die Fähigkeit, in unserer Vorstellung sehr unterschiedliche Standpunkte einnehmen zu können, von denen wir auf die Zahlen schauen. Bei der Aufgaben 89+5 betrachten wir lediglich einen kleinen Ausschnitt unseres imaginierten Zahlenraumes, und die Zahl 94 liegt dann vielleicht am rechten Rand. Bei der Aufgabe 253 000 + 547 000 wird es hingegen ein sehr großer Bereich sein, den wir überblicken und in dem die Zahl 94 an den linken Rand gedrückt erscheint. Wir müssen sie schon mit Mühe wieder "heranzoomen", unsere vorstellungsmäßige Lupe bemühen, um die Zahl 94 hervorzuholen.
In unserem Denken spielt, entgegen der gängigen Didaktik und den darin meist angesprochenen Zahlaspekten Kardinalzahl, Ordinalzahl, Größenzahl, Codierungszahl, Rechenzahl, ein anderer Zahlaspekt die Hauptrolle: die Relationalzahl, die Zahl in ihrer Beziehung zu anderen Zahlen.
Dies macht die Stärke in unserem Denken aus, denn wir können damit Ergebnisse abschätzen, überschlagen, wir können günstige Rechenstrategien benutzen
( 56 + 98 = 56 + 100 - 2 ) und Operationen finden (4 # 5 # 1 = 21 als 4 x 5 + 1).
Was bedeutet dies für den Unterricht?
Nun, zum einen, dass die enge Verbindung von Zahlen mit irgendwelchen bestimmten, festgelegten Größen ihren Beziehungsaspekt vernachlässigt und damit das Denken mit Zahlen nicht befördert. Eine einengende Veranschaulichung verhilft nicht zu einem flexiblen Zahlenumgang, der Entwicklung eines Zahlensinns. Auch große Zahlen lassen sich nur schwer veranschaulichen, wenn sie lediglich alleine betrachtet werden.
Wie viele Reiskörner sind in einem 1-kg-Beutel? Es mag verlockend sein, die Kinder mit solchen Aufgaben zu konfrontieren, aber lediglich dann, wenn damit nicht die Zahl selbst, sondern das Verfahren, sie zu bestimmen, im Vordergrund steht. Dann kommt es darauf an, geeignete Beziehungen zu kleineren, aber leichter handhabbaren und bestimmbaren Zahlen herzustellen: also wieder die Beziehungen der Zahlen untereinander zu untersuchen.
Denn eine Million (oder wie viel auch immer in einem Reisbeutel sind) hat keine solche Größe. Eine Million Atome sind in ihrer Ausdehnung sehr klein, eine Million Galaxien sehr groß. Aber eine Million ist nichts, sie ist ein Konstrukt unseres Denkens, das sich in vielen verschiedenen Situationen verwenden lässt. Das macht ihre Kraft im menschlichen Denken aus, denn sie ist nicht gekoppelt an feste Größen, aber auf alle anzuwenden.
Zahlen haben eben keine eigene Größe!
Prof. Jens Holger Lorenz, Mai 2001