Perspektive Zeit
Der folgende Text wurde dem „Perspektivrahmen Sachunterricht“ entnommen.
Zur historischen Perspektive: Zeit – Wandel
„Das menschliche Leben als Individuum und gesellschaftliches Wesen ist in zeitliche Prozesse eingebunden. Die aktuelle Lebenssituation ist entstanden durch Prozesse, Entwicklungen und Entscheidungen in der Vergangenheit; gleichermaßen wird die Zukunft durch aktuelle Entwicklungen und Prozesse beeinflusst. Die Beschäftigung mit der Geschichte betrifft somit eine zentrale Frage menschlichen Daseins.
Kinder leben in einer geschichtsgesättigten Umwelt, ihr Alltag ist durchdrungen von Vergangenem: Sie sehen Fernsehsendungen oder spielen Computerspiele mit historischem oder pseudohistorischem Hintergrund, lesen Asterix-Comics, gehen auf Mittelalterfeste (...) „Diese ‚Geschichtskultur’ erzeugt bei Kindern Fragen, Unverständlichkeiten, produziert möglicherweise auch falsche Informationen oder einseitige Deutungen – die Klärung des Un- und Missverstandenen ist eine zentrale Aufgabe des historischen Lernens in der Grundschule. Gleichzeitig erweitert die gezielte Begegnung mit Geschichte die Erfahrungs- und Denkmöglichkeiten von Kindern – in der Geschichte präsentieren sich vielfältige Möglichkeiten menschlichen Lebens, Denkens und Handelns, die im Alltag der Kinder (noch) nicht repräsentiert sind, [und] die Auseinandersetzung mit ihnen kann das eigene Leben bereichern, die eigenen Horizonte und Perspektiven erweitern. Und schließlich erfahren die Kinder in der Beschäftigung mit der Geschichte, dass Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenhängen; indem sie verstehen, dass früheres Handeln (oder Nicht-Handeln) heutiges Leben beeinflusst hat, können sie auch verstehen, dass heutiges Handeln, also auch ihr Handeln, das Leben zukünftiger Generationen beeinflusst.
Eine elementare historische Bildung führt Grundschülerinnen und -schüler, ausgehend von eigenen Erfahrungen und von exemplarischen und für sie bedeutsamen Themen, zur Begegnung, Erschließung und Auseinandersetzung mit Fragen menschlichen Lebens und Handelns im Wandel der Zeit.
Oberstes Ziel des historischen Lernens im Sachunterricht ist die Förderung der Fähigkeit zum historischen Denken, anders ausgedrückt: die Entwicklung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins. Dabei geht es nicht in erster Linie um den Erwerb von Faktenwissen, sondern um die – methodisch angeleitete und zunehmend systematische – gemeinsame Auseinandersetzung mit historischen Fragen, Problemen und Gegenständen, die im kindlichen Interesse sind bzw. für die kindliches Interesse geweckt werden kann.
Zum historischen Denken gehört unabdingbar, den Unterschied zwischen realer Vergangenheit und rekonstruierter Geschichte, d. h. den Konstruktionscharakter von Geschichte, zu kennen. Geschichte erschließt sich durch die Historische Methode: Zunächst wird aus der Gegenwart heraus eine Fragestellung formuliert. Um sie zu beantworten, müssen Quellen und Darstellungen recherchiert, gesichert und beurteilt werden. Sind die aussagekräftigen Quellen und Darstellungen beisammen, muss man sie interpretieren. Schließlich folgt die Darstellung (Narrativierung) der gewonnenen Erkenntnisse. Es geht also um historische Sinnbildungsprozesse durch Erzählung.
Zentrales Motiv der historischen Erkenntnisgewinnung ist ein Orientierungsbedürfnis, das sowohl gesellschaftlich bzw. kollektiv als auch persönlich bzw. individuell geprägt sein kann. Es ergibt sich zum einen aus der Frage nach den eigenen Wurzeln („Woher komme ich/kommen wir?“), deren Erkundung die Basis für gegenwärtiges und zukünftiges Handel ist („Wohin gehe ich/gehen wir?“, zum anderen auch aus dem Bedürfnis, durch den Blick in die Vergangenheit andere, fremde Denk-, Lebens- und Handlungsweisen kennen zu lernen und so seinen eigenen Horizont zu erweitern, um gegenwärtige Probleme und Handlungsansprüche besser verstehen und zukünftige Handlungsperspektiven entwickeln zu können. Geschichte definiert sich durch diese Verknüpfung der drei Zeitebenen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Gesellschaft für Didaktik des Sachunterrichts: Perspektivrahmen Sachunterricht, Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2013, S. 56-57.